“Deutschland erlebt derzeit einen epochalen Wandel am Arbeitsmarkt”
Letzte Woche hat die Bundesregierung ihr Eckpunktepapier zur Fachkräfteeinwanderung aus Drittstaaten veröffentlicht. Ein Experte für dieses Themengebiet ist Dr. Wido Geis-Thöne vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Erst im November hat er die Analyse “Fachkräftesicherung durch Zuwanderung über die Hochschule: Aktueller Stand und Handlungsansätze für die Politik” publiziert. Im Interview sprechen wir mit ihm über die zentralen Befunde seiner Analyse sowie die Frage, wie Deutschland aus seiner Sicht in Zukunft noch mehr internationale Studierende als zukünftige Fachkräfte gewinnen könnte.
Herr Geis-Thöne, könnten Sie zunächst einmal kurz den Anlass für Ihre Analyse und deren zentrale Befunde erläutern?
Deutschland erlebt derzeit einen epochalen Wandel am Arbeitsmarkt. War die Erwerbsbevölkerung bis zum Ende der 2010er-Jahre kontinuierlich größer geworden, wird sie mit dem Ausscheiden der besonders geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer in den nächsten Jahren aller Voraussicht nach regelrecht einbrechen. Nur Zuwanderung kann diese Entwicklung maßgeblich abmildern. Allerdings verfügt nur ein kleiner Teil der Personen im außereuropäischen Ausland, die gegebenenfalls gerne nach Deutschland kommen möchten, über die hierzulande benötigten Fachkenntnisse. Daher sollten zur Sicherung der Fachkräftebasis auch zunehmend Personen aus dem Ausland mit der Perspektive einer späteren Erwerbstätigkeit in Deutschland ausgebildet werden. Vor diesem Hintergrund haben wir betrachtet, wie viele der zum Studium ins Land gekommene Personen bereits heute hierzulande leben, wie sie sich am hiesigen Arbeitsmarkt positioniert haben und wo es gegebenenfalls Verbesserungspotenziale beim ordnungspolitischen Rahmen gibt.
Die Gesamtzahl dieser von uns als „Zugewanderte über die Hochschule“ bezeichneten Personen zwischen 25 und 64 Jahren war im Jahr 2019 mit 307.000 noch überschaubar. So lag die Zahl der erst nach Erreichen des höchsten Hochschulabschlusses ins Land Gekommenen mit 1,6 Millionen mehr als fünfmal so hoch. Allerdings hatten die über die Hochschule Zugewanderten besonders häufig Abschlüsse im MINT-Bereich, wo aktuell besonders starke Engpässe bestehen. Auch konnten sie sich sehr gut am Arbeitsmarkt positionieren und übten zumeist Tätigkeiten aus, die in der Regel einen Hochschulabschluss voraussetzen. Ihre Beschäftigung war also ausbildungsadäquat. Die Herausforderung besteht demnach vorwiegend darin, mehr Personen für den Zugangsweg über die Hochschule nach Deutschland zu gewinnen.
Sie schreiben in Ihrer Analyse, dass sich in Deutschland, anders als z.B. in den USA oder dem Vereinigten Königreich „kein starkes Stipendiensystem“ entwickelt habe und die Marketingbemühungen bei einer Förderung der Zuwanderung über die Hochschulen verstärkt werden müssten. Der DAAD bewirbt den Studien- und Forschungsstandort mit seinen Kampagnen und bietet diverse Stipendienprogramme für internationale Studierende weltweit an. Sehen Sie die Notwendigkeit des Ausbaus dieser Programme – falls ja, in welchen Bereichen?
Ein großer Teil dieser bestehenden Stipendienprogramme richtet sich vorwiegend an Personen in fortgeschrittenen Phasen ihrer hochschulischen Ausbildung. Im Hinblick auf die internationale Vernetzung der Hochschulen ist dies auch gut so. Beim Zugang zu einer vollständigen akademischen Ausbildung im Land ergibt sich jedoch bereits bei Studienbeginn ein Problem: Können Drittstaatsangehörige zu diesem Zeitpunkt keine ausreichenden finanziellen Mittel zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nachweisen, erhalten sie kein Visum. Sind sie einmal im Land, können sie ihren Lebensunterhalt gegebenenfalls durch eine Nebenerwerbstätigkeit zu großen Teilen selbst decken. Das hilft ihnen jedoch nicht bei der Visavergabe. Hier sind Stipendien oder gegebenenfalls auch Bürgschaften notwendig, die bereits vor Aufnahme des Studiums zum ersten Hochschulsemester im Bachelor und an Personen, die sich noch im Ausland aufhalten, erteilt werden. Die Gesamtzahl der Stipendienplätze, auf die das zutrifft, ist jedoch bislang sehr begrenzt.
Auch wird der Zugang dadurch erschwert, dass in diesem Bereich viele unterschiedliche Organisationen aktiv sind. Dabei wäre es für die Studieninteressierten aus dem Ausland optimal, wenn sie sich mit der Bewerbung um einen Studienplatz in Deutschland auch direkt um ein entsprechendes Stipendium bewerben könnten, sodass sie im Hinblick auf die weiteren aufenthaltsrechtlichen Schritte auch beide Zusagen gemeinsam vorliegen hätten.
Bei der Werbung für ein Studium in Deutschland gilt die Devise „Viel hilft viel“, da die potenziell infrage kommenden Personen im Ausland nur schwer direkt erreicht werden können. Die Online-Plattform „Study in Germany“ und die weiteren Kampagnen des DAAD bieten hier ein sehr gutes Fundament, auf dem weiter aufgebaut werden sollte. Wichtig ist dabei eine sehr gezielte Bewerbung der Option, sich in Deutschland ausbilden zu lassen und im Anschluss an das Studium als Fachkraft im Land zu bleiben.
Welche weiteren erfolgversprechenden Ansätze gibt es aus Ihrer Sicht, um mehr internationale Studierende auch als zukünftige Fachkräfte für Deutschland gewinnen zu können? Welche Rolle sollten aus Ihrer Sicht die deutschen Hochschulen hierbei spielen?
Dazu ist zunächst anzumerken, dass der Anteil der langfristig im Land verbleibenden Studierenden in Deutschland im Vergleich mit den anderen OECD-Ländern bereits heute sehr hoch liegt. Dies hat gerade erst der International Migration Outlook 2022 der OECD ermittelt. Dabei ist vor dem Hintergrund, dass die Ausbildung von Personen aus dem Ausland an den deutschen Hochschulen einen substanziellen Beitrag zu Entwicklungszusammenarbeit und Internationalisierung der Wissenschaft leistet, nicht unbedingt negativ zu sehen, wenn ein großer Teil der internationalen Studierenden zeitnah wieder zurückkehrt.
Dennoch gibt es aus meiner Sicht im Hinblick auf den Verbleib im Land Verbesserungspotenziale beim ordnungspolitischen Rahmen. Insbesondere sollten internationale Studierende nach einem erfolgreichen Studienabschluss in Deutschland grundsätzlich direkt ein auf Dauer angelegtes Aufenthaltsrecht und nicht nur einen Aufenthaltstitel zur Arbeitsplatzsuche erhalten. Den Hochschulen kommt meines Erachtens die Aufgabe zu, die internationalen Studierenden mit Blick auf die Möglichkeiten des Verbleibs in Deutschland zu beraten und sie bei entsprechenden Schritten gezielt zu unterstützten, z.B. bei der Anbahnung von Kontakten zu deutschen Arbeitgebern, etwa in Form von Praktika. Sehr wichtig ist auch, dass die Hochschulen in englischsprachigen Studiengängen ein Umfeld schaffen, das die internationalen Studierenden motiviert, trotzdem sehr gute Deutschkenntnisse zu erwerben. Denn diese sind für den späteren Berufseinstieg in Deutschland in den meisten Fällen eine Grundvoraussetzung.
Zur Person
Dr. Wido Geis-Thöne ist Senior Economist im Themencluster Bildung, Innovation, Migration am Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen demografische Entwicklung, Zuwanderung, Integration, Familienpolitik und Bildung. Mit der potenziellen Bedeutung internationaler Studierender für die Fachkräfte hat er sich in der Vergangenheit bereits in mehreren Studien befasst.
Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.