Indien gehört seit zehn Jahren zu den wichtigsten Herkunftsländern der internationalen Studierenden an deutschen Hochschulen. Seitdem erhöht sich die Zahl der indischen Studierenden in nicht nachlassender Dynamik Jahr für Jahr. Dr. Ulrich Heublein, Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) zeichnet in seinem Beitrag diese Entwicklung nach, stellt sie in einen internationalen Kontext und trifft Aussagen zum künftigen Platz Indiens unter den Herkunftsländern. Dabei geht er auch auf die besonderen Studieninteressen indischer Studierender in Bezug auf Studienfächer, Hochschulen und Hochschulabschlüsse ein.
Zu den auffälligsten Entwicklungen bei den internationalen Studierenden an deutschen Hochschulen gehört die stark steigende Zahl indischer Studierender. Im Wintersemester 2021/22 waren rund 33.800 Studierende aus Indien in Deutschland eingeschrieben, zehn Jahr zuvor, im Wintersemester 2011/12, betrug deren Zahl lediglich rund 5.700. Damit haben sich die Immatrikulationszahlen indischer Studierender in diesem Zeitraum versechsfacht. Kein anderes für die internationale Mobilität wichtige Land weist derzeit eine solch dynamische Entwicklung auf. Die jährlichen Steigerungsquoten in Deutschland liegen seit mehr als zehn Jahren über 13%, häufig sogar über 20%. Auch während der Corona-Zeit setzte sich dieser Anstieg ungebrochen fort. Im Vergleich dazu kommt die Gesamtzahl der internationalen Studierenden in Deutschland nur auf jährliche Steigerungen zwischen 6% und 8%.
Mit diesem Wachstum stellt allerdings das Gastland Deutschland keine Ausnahme dar. Die Gesamtzahl der international mobilen Studierenden aus Indien hat sich nach Angaben der UNESCO zwischen 2010 und 2020 auf rund 485.000 verfünffacht. Eine besonders starke Steigerung verzeichnen die kanadischen Universitäten, hier fiel die Zahl indischer Studierender 2020 16 Mal höher aus als im Jahr 2010, in Australien, Frankreich und Russland vier Mal höher. Dagegen fällt das Wachstum an den Hochschulen in den USA und im Vereinigten Königreich in den letzten zehn Jahren deutlich niedriger aus, obwohl sie aufgrund kulturell-geschichtlicher Bezüge sowie eines Studienangebots in englischer Sprache, einer der Amtssprachen in Indien, schon länger die wichtigsten Studienländer für indische Studierende sind. In beiden Ländern hat sich die Zahl der indischen Studierenden zwischen 2010 und 2020 nur um rund 40% bis 50% erhöht. Möglicherweise haben steigende Studien- und Lebenshaltungskosten an den britischen und US-amerikanischen Hochschulen dazu geführt, dass international mobile Studierende aus Indien sich vermehrt nach alternativen Studienländern umsehen.
Indien bald wichtigstes Herkunftsland internationaler Studierender in Deutschland?
In Deutschland steht Indien derzeit nach China an zweiter Stelle in der Rangliste der wichtigsten Herkunftsländer für internationale Studierende. Die Zahl der Studierenden aus China stagniert bei rund 40.000. Schon vor der Corona-Zeit fielen die Steigerungsquoten für chinesische Studierende unterdurchschnittlich aus. Bliebe dies so und behielten die indischen Studierenden ihre gegenwärtige Wachstumsdynamik bei, so würde das dazu führen, dass schon im Wintersemester 2023/24 mehr Studierende aus Indien an deutschen Hochschulen lernen als aus China. Dafür spricht unter anderem, dass schon seit dem Studienjahr 2020 mehr Studienanfängerinnen und -anfänger aus Indien als aus China nach Deutschland kommen. 2021 haben sich rund 12.000 indische Studierende erstmals an deutschen Hochschulen eingeschrieben, aus China nur 8.900 – das ist im Vergleich zu 2019 ein Rückgang um 28%. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass dieser Entwicklung noch pandemiebedingte Mobilitätsbeschränkungen zugrunde liegen und es wieder zu einer Erholung der Zahl chinesischer Studienanfängerinnen und -anfänger kommt, so darf doch nicht übersehen werden, dass sich deren Zahl schon seit 2016 nicht wesentlich erhöht hat, während der Anstieg bei den indischen Ersteingeschriebenen ungebrochen ist.
Die indischen Studierenden zeichnen sich durch einige Merkmale aus, die sie deutlich vom Durchschnitt der internationalen Studierenden an deutschen Hochschulen unterscheiden. So gilt ihr Studieninteresse in zunehmendem Maße den Hochschulen für angewandte Wissenschaften sowie privaten Hochschulen. Während im Durchschnitt nur 23% der internationalen Studierenden an Hochschulen für angewandte Wissenschaften eingeschrieben sind, beträgt dieser Anteil bei Inderinnen und Indern 28%. An privaten Hochschulen lernen 9% der internationalen Studierenden insgesamt, aber 13% der indischen Studierenden. Die Zahl der Studierenden aus Indien an privaten Hochschulen ist innerhalb von fünf Jahren um 341% gestiegen, während der Anstieg an den öffentlichen Hochschulen nur 129% betrug. Kaum Interesse findet dagegen bislang ein Studium an einer Kunst- und Musikhochschule. Lediglich 15 indische Studierende waren im Wintersemester 2021/22 zum Studium an einer dieser Hochschulen immatrikuliert.
Besonderes Studieninteresse für MINT-Fächer
Die überwiegende Mehrzahl der indischen Studierenden kommt mit einem Bachelorabschluss nach Deutschland und schreibt sich in einem Masterstudiengang ein. Deren Anteil beträgt 83%, nur 9% streben einen Bachelor und 6% die Promotion an. Bei keinem anderen für die internationale Mobilität wichtigen Herkunftsland fällt der Anteil der Masterstudierenden so hoch aus. Von den internationalen Studierenden sind im Wintersemester 2021/22 insgesamt 43% in Master- und 37% in Bachelorstudiengängen eingeschrieben. Die starke Konzentration auf das Masterstudium ist eine Folge der mangelnden Attraktivität eines deutschen Bachelorstudium für indische Studierende. Zum einen würden viele indische Studienbewerberinnen und Studienbewerber für ein Bachelorstudium keinen direkten Hochschulzugang in Deutschland erhalten und müssten zunächst das Studienkolleg absolvieren. Zum anderen dürften auch die notwendigen fortgeschrittenen Deutschkenntnisse eine Hürde für ein Bachelorstudium darstellen. Dabei dürfte auch eine Rolle spielen, dass die Zahl englischsprachiger Bachelorstudiengänge an deutschen Hochschulen (316 im Februar 2023 laut HRK-Hochschulkompass, davon nur ein Fünftel in den für indische Studierende besonders attraktiven Ingenieurwissenschaften) deutlich niedriger ausfällt als die Zahl englischsprachiger Masterstudiengänge (1.609).
Charakteristisch für indische Studierenden in Deutschland ist darüber hinaus ein überdurchschnittlich starkes Interesse an einem MINT-Studium. Mit einem Anteil von 77% haben sich über drei Viertel von ihnen in einem MINT-Studiengang eingeschrieben, 64% in Ingenieurwissenschaften und 13% in Mathematik und Naturwissenschaften. Bei den internationalen Studierenden insgesamt betragen diese Anteile lediglich 42% und 11%. Daneben sind nur noch die Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften für Studierende aus Indien relevant, Studiengänge dieser Fächergruppe wurden von 17% der indischen Studierenden belegt (internationale Studierende insgesamt: 25%). In anderen Fächergruppen wie Geisteswissenschaften, Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften sowie Agrar-, Forst- und Ernährungswissenschaften haben sich nur jeweils 1% bis 2% der indischen Studierenden immatrikuliert. Die wichtigsten Studienbereiche indischer Studierender sind Informatik (17%), Wirtschaftswissenschaften (12%), Maschinenbau (11%), Elektrotechnik (11%) und Ingenieurwesen allgemein (9%).
Angesichts der aktuellen Daten zu den indischen Studierenden ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sich deren Zahl weiter stark erhöhen wird. Allerdings ist fraglich, ob dabei die starke Konzentration auf MINT-Studienfächer erhalten bleibt oder ob es zu einer stärkeren Diversifizierung des Studieninteresses kommt. Erste Anzeichen lassen sich dafür schon ausmachen, so ist der Anteil der indischen Studienanfängerinnen und -anfänger in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im Studienjahr 2021 auf 23% gestiegen, während der Anteil in den Ingenieurwissenschaften auf 56% gesunken ist.
Ulrich Heublein ist seit 1991 am DZHW tätig und Projektleiter in der Abteilung "Bildungsverläufe und Beschäftigung". Seine Forschungsinteressen gelten den Bedingungen erfolgreichen Studierens, den Ursachen des Studienabbruchs sowie der Internationalisierung von Studium und Forschung. Er hat Germanistik und Publizistik an der Universität Leipzig studiert und 1986 in Germanistik promoviert.