“Für viele Studieninteressierte ist es sehr wichtig, die Erfahrungen anderer Studierender in Deutschland aus erster Hand zu hören”
Dr. Sazana Jayadeva ist Assistenzprofessorin im Fachbereich Soziologie an der Universität Cambridge im Vereinigten Königreich. In einer kürzlich veröffentlichten Analyse untersucht sie die Frage, welchen Einfluss indische Influencerinnen und Influencer in sozialen Medien wie Facebook und YouTube auf die Entscheidungen indischer Studieninteressierter für Deutschland als mögliches Gastland haben. Im Interview erläutert sie, was der Anlass für diese Forschungsfrage war, was die zentralen Befunde ihrer Untersuchung sind und welche Schlussfolgerungen sich aus ihrer Sicht hieraus für die Hochschulpraxis ergeben. (Das Interview wurde aus dem Englischen übersetzt.)
Könnten Sie zunächst kurz erläutern, was Sie zu Ihrer Untersuchung veranlasst hat und wie die konkrete Forschungsfrage lautete?
Meine Forschung zielt darauf ab, die Gründe für den starken Anstieg der Zahl von Inderinnen und Indern, die in Deutschland studieren, zu verstehen. Bei der Vorbereitung des Projekts bin ich auf eine Reihe von Facebook- und WhatsApp-Gruppen zur gegenseitigen Unterstützung gestoßen, die von internationalen Studieninteressierten in Indien genutzt werden, die sich für ein Studium in Deutschland interessieren, sowie auf einen YouTube-Kanal zum Thema Studium in Deutschland, der von einem indischen Masterstudenten der TU Hamburg betrieben wird. Ich war fasziniert davon, wie viele internationale Studieninteressierte in Indien solche Plattformen nutzen, um sich über ein Studium in Deutschland zu informieren, und welche neuen Quellen von Fachwissen über ein Auslandsstudium auf diese Weise entstehen. So wurde mir klar, dass es für das Verständnis der Studierendenmobilität von Indien nach Deutschland entscheidend ist, diese neuen Entwicklungen zu untersuchen.
Was sind die zentralen Befunde Ihrer Studie?
Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse ist, dass die sozialen Medien für angehende indische Studierende mittlerweile eine wichtige Informations- und Beratungsquelle für ein Studium in Deutschland sind. Es gibt eine große Anzahl von lebendigen Facebook- und WhatsApp-Gruppen zum Thema „Studieren in Deutschland“, die für angehende Studierende in ganz Indien zu einem wichtigen Ort der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Lernens geworden sind. In diesen Gruppen knüpfen sie Kontakte und unterstützen sich gegenseitig bei der Entscheidung, an welchen Universitäten und in welchen Studiengängen sie sich bewerben wollen, bei der Vorbereitung von Universitäts- und Visumsanträgen und bei der Organisation der Reise.
Nachdem ich im Rahmen einer digitalen Ethnografie viel Zeit in diesen Gruppen verbracht hatte, habe ich ein weiteres sehr auffälliges Phänomen bemerkt: Diese Gruppen haben auch eine neue Form der Bildungsberatung hervorgebracht. Einige indische Studenten in Deutschland nutzen ihre Erfahrungen aus erster Hand und ihr Insiderwissen über das Studium in Deutschland, um anderen Gruppenmitgliedern gegen eine Gebühr persönliche Unterstützung anzubieten. Sie rekrutieren diskret Kunden über die Gruppen und kommunizieren mit ihnen privat über WhatsApp und E-Mail. Der produktivste von ihnen hat pro Semester 150 Kundinnen und Kunden aus ganz Indien und hat erheblichen Einfluss darauf, an welchen deutschen Universitäten sich seine Kundinnen und Kunden bewerben. In einigen Fällen haben diese studentischen Beraterinnen und Berater eine große Rolle dabei gespielt, weniger bekannte Fachhochschulen bekannt zu machen und Studierende zu unterstützen, die von klassischen Beratungsagenturen in Indien möglicherweise von einer Bewerbung in Deutschland abgehalten wurden.
Es gibt auch eine Handvoll YouTube-Kanäle zum Thema „Studieren in Deutschland“, die von indischen Studierenden in Deutschland betrieben werden. Sie bieten angehenden Studierenden in Indien die Möglichkeit, die Perspektiven und Erfahrungen von Inderinnen und Indern zu hören, die derzeit in Deutschland studieren, und sogar deutsche Universitäten, Studierendenwohnheime, Supermärkte usw. virtuell durch ihre Kameras zu besuchen. Einige dieser YouTuberinnen und YouTuber gelten in der Gemeinschaft der Studieninteressierten als Prominente – der beliebteste von ihnen hat Hunderttausende von Abonnentinnen und Abonnenten, und seine Videos wurden millionenfach angesehen. In meinem Beitrag analysiere ich die Bedeutung dieser YouTuberinnen und YouTuber und erörtere, inwiefern sie als Einflussfaktoren für ein Auslandsstudium betrachtet werden können. Sie spielen eine große Rolle bei der Schaffung eines Bewusstseins für Deutschland als Studienziel unter Inderinnen und Indern, und die von ihnen produzierten Inhalte haben einen großen Einfluss auf die Auslandsstudienpläne und -strategien ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer.
Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus Ihrer Sicht aus diesen Befunden für die Hochschulpraxis ziehen?
Die meisten Studierenden, die ich in Deutschland interviewt habe, und die Studieninteressierten, die ich in den sozialen Medien getroffen habe, erlebten den Prozess der Organisation eines Auslandsstudiums als kompliziert und stressig. Obwohl auf den Websites der Hochschulen und des DAAD inzwischen eine Vielzahl nützlicher Informationen in englischer Sprache zur Verfügung steht, war es für viele Studieninteressierte sehr wichtig, die Erfahrungen anderer indischer Studierender in Deutschland aus erster Hand zu hören – wie finden sie ihre spezifischen Masterprogramme, Hochschulen und Praktika, wie finden sie das Leben in Deutschland, wie einfach oder schwierig ist es, nach dem Abschluss einen guten Job zu finden?
Ein zweiter Punkt, den ich erwähnen möchte, ist, dass Deutschland von Inderinnen und Indern vor allem als Zielland für ein Ingenieurstudium gesehen wird. Die Mehrheit der Inderinnen und Inder, die in Deutschland studieren, sind in Ingenieurstudiengängen eingeschrieben. Auch die Studierenden-Communities in den sozialen Medien werden von Ingenieurstudierenden dominiert, und ein Großteil der dort verfügbaren Informationen bezieht sich auf Ingenieurstudiengänge in Deutschland und das Leben und Arbeiten in Deutschland für Ingenieurinnen und Ingenieure. Menschen, die sich für ein Studium anderer Fachrichtungen interessieren, haben es schwerer, Erfahrungen aus erster Hand über die Studiengänge, für die sie sich interessieren, und die mit diesen Studiengängen verbundenen Berufsaussichten zu erhalten. Dies könnte Menschen anderer Fachrichtungen möglicherweise von einem Studium in Deutschland abhalten.
Wenn die deutschen Hochschulen mehr indische Studierende mit einem breiteren fachlichen Hintergrund anziehen wollen, könnte also eine gute Strategie darin bestehen, die Erfahrungen aktueller Studierender und junger Absolventinnen und Absolventen aus verschiedenen Fachbereichen durch Videointerviews, Live-Fragestunden und Videos im Vlog-Stil in ihren sozialen Medien zu präsentieren.
Zur Person
Dr. Sazana Jayadeva ist Assistenzprofessorin im Fachbereich Soziologie an der Universität Cambridge im Vereinigten Königreich. Außerdem ist sie assoziierte Forscherin am GIGA Institut für Asienkunde in Hamburg, Deutschland. Ihre Forschung befasst sich u.a. mit der Studierendenmobilität aus Indien nach Deutschland und der Rolle sozialer Medien bei der Erleichterung dieser Mobilität. Sie ist Mitglied des Redaktionsausschusses der Zeitschriften Global Networks und Sociological Research Online.
Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.