“Hochschulinternationalisierung wird nicht mehr nur an Hochschulen als Querschnittsthema aufgefasst”
Anna Prisca Lohse ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Hochschulbildung im Kontext von digitalem Wandel und Diversität an der Technischen Universität Berlin. Im September 2023 schloss sie erfolgreich ihre Promotion zum Thema “Higher Education in an Age of Disruption: A comparative study of internationalization policies in England, France, and Germany reacting to Brexit and the COVID-19 pandemic” ab. Im Interview erläutert sie, was der Anlass für Ihr Promotionsprojekt war, welche Methodik sie hierbei verwendet hat und was aus ihrer Sicht die zentralen Befunde der Analyse sind.
Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit der Frage beschäftigt, inwiefern sich der Brexit und die Corona-Pandemie auf die Hochschulinternationalisierung in Deutschland, England und Frankreich ausgewirkt haben. Können Sie zunächst einmal kurz erläutern, wie Sie auf diese Fragestellung gekommen sind und was der Grund für die Auswahl der drei untersuchten Länder war?
England, Frankreich und Deutschland sind seit vielen Jahren die drei wichtigsten Gastländer für internationale Studierende, die einen Abschluss außerhalb ihres Herkunftslandes erwerben wollen. Auch am Erasmus-Programm haben Deutschland, England, und Frankreich seit dessen Gründung im Jahre 1987 teilgenommen. Insofern ist Studierendenmobilität in allen drei Hochschulsystemen stark institutionalisiert. Jahrzehntelang schien der Trend eindeutig: stetig steigende internationale Studierendenzahlen und eine zunehmende Europäisierung des Hochschulwesens, beispielsweise durch die Vereinheitlichung von Abschlüssen im Rahmen der Bologna-Reform.
Die Möglichkeit zur physischen innereuropäischen Mobilität wurde von vielen Hochschulakteuren daher zunehmend als eine Selbstverständlichkeit betrachtet. Doch plötzlich standen durch den Brexit sowie im Zuge der Covid-19-Pandemie etablierte Praktiken und Regelungen auf der Kippe. Nach dem Brexit-Referendum herrschte jahrelang Unklarheit darüber, ob das Vereinigte Königreich weiterhin an Erasmus teilnehmen würde und ob EU-Studierende wie bisher im Rahmen der EU-Personenverkehrsfreiheit einen vergünstigten Zugang zu britischen Studiengängen haben würden. Mit der Corona-Pandemie kam erstmals in der Geschichte der neuzeitlichen Universität die globale Studierendenmobilität weitestgehend zum Erliegen. Es wurde daher spekuliert, ob Brexit und Corona eine Zeitenwende in der Hochschulinternationalisierung auslösen. Manche gingen beispielsweise davon aus, dass die Pandemie eine Ära einläuten würde, in der physische Mobilität nicht mehr das Kernanliegen der Internationalisierung repräsentiert, sondern transnationale Online-Studiengänge.
Die wissenschaftliche Literatur hingegen deutet darauf hin, dass gesellschaftliche Institutionen, wie zum Beispiel die Kirche, Industriesektoren oder Hochschulsysteme, hinsichtlich ihrer Strukturen sehr beständig sind – auch angesichts einschneidender historischer Ereignisse. Anfang 2020 habe ich daher beschlossen, im Zuge meiner Dissertation den konkurrierenden Erwartungen gegenüber den Folgen von Brexit und Covid-19 auf den Grund zu gehen.
Wie sind Sie bei der Untersuchung Ihre Forschungsfrage genau vorgegangen, d.h. welchen konzeptuellen Rahmen haben Sie hierfür verwendet?
Im ersten Schritt habe ich ein Analysemodell entwickelt, das hochschulpolitische Entwicklungen im Kontext der Brexit- und Covid-19-Disruptionen erfasst und hierfür Indikatoren der Hochschulinternationalisierung definiert. Studierendenmobilität ist im nationalen Hochschulsystem über Regelungen, Normen und kulturelle Annahmen institutionalisiert. Regelungen umfassen beispielsweise Einreise- und Hochschulzulassungsbestimmungen für internationale Studierende sowie Stipendien- und Hochschulpartnerschaftsvereinbarungen. Normen zeigen sich in den gängigen Aktivitäten und Zielen der Hochschulinternationalisierung, die unter anderem von Akteuren wie dem DAAD und International Offices geprägt werden. Bei der kulturellen Dimension habe ich tief verankerte Überzeugungen betrachtet; so verfolgt Deutschland beispielweise eine Philosophie der primär kollaborativen Internationalisierung, bei der es nicht um die Erzielung unmittelbarer finanzieller Gewinne geht. Anders ist das in England, wo man eine marktwirtschaftlich orientierte Internationalisierungsstrategie verfolgt, bei der über Studiengebühren von internationalen Studierenden das Hochschulsystem finanziert wird.
Anschließend habe ich eine zeitliche Analysedimension integriert und den Zustand der regulativen, normativen und kulturellen Dimensionen in allen drei Ländern vor Brexit und Pandemie sowie während der Disruptionen miteinander verglichen, also im Zeitraum zwischen 2016 und 2021. Analog zu den konkurrierenden Erwartungen der Zeitzeugen und der wissenschaftlichen Literatur habe ich drei mögliche Szenarien definiert. Veränderungen in allen drei Dimensionen, also bezüglich Regelungen, Normen und kulturellen Annahmen, signalisieren eine radikale Zeitenwende. Veränderungen in nur einer oder zwei Dimensionen bedeuten partiellen Wandel, während das dritte Szenario keine einschneidenden Veränderungen umfasst und somit auf generelle Stabilität in der Hochschulinternationalisierung verweist.
Was waren aus Ihrer Sicht die zentralen Befunde Ihrer Analyse? Und welche Konsequenzen ergeben sich Ihrer Einschätzung nach aus Ihren Befunden für die Hochschulpraxis?
Weder in Bezug auf den Brexit noch in Bezug auf die Corona-Pandemie gab es in England, Frankreich oder Deutschland einen radikalen Wandel der Hochschulinternationalisierung. Vielmehr zeigte sich, dass Hochschulakteure die Disruptionen strategisch dazu nutzten, bereits geplante Vorhaben beschleunigt umzusetzen. So hatte beispielsweise das Vereinigte Königreich bereits im Jahr 2013 angekündigt, Studierendenaustausch zunehmend außerhalb von Erasmus zu gestalten. Mit den Brexit-Verhandlungen gab es ein Gelegenheitsfenster für die Brexiteers, die Teilnahme an EU-Programmen anzufechten. Das Referendum stattete sie mit der nötigen politischen Macht und Legitimität aus, den Austritt aus dem Erasmus-Programm zu beschließen und stattdessen das Turing-Scheme einzuführen. Frankreich und Deutschland reagierten auf den Brexit mit einer Intensivierung ihrer existierenden Bestrebungen zur Stärkung des europäischen Hochschulraums. Der französische Präsident Emmanuel Macron stach besonders hervor, da er zur Stärkung des europäischen Zusammenhalts die Initiative „Europäische Hochschulen“ anregte, die in den vergangenen Jahren bereits umgesetzt wurde. Tatsächlich ist die Idee der Europäischen Hochschule aber keine neue Idee. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Gründung einer solchen Hochschule immer wieder verhandelt, allerdings bestand Uneinigkeit unter den EU-Mitgliedern, an welchem Ort eine solche Universität gegründet werden und welche fachliche Ausrichtung diese haben sollte. Zudem befürchteten die Mitgliedstaaten einen Brain Drain hin zu dieser europäischen Leuchtturm-Universität. Der französische Präsident nutzte die Verunsicherung durch den Brexit, um die Idee einer Europäischen Universität wieder auf die Agenda zu bringen, und umging potentielle Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten, indem er für ein Allianz-Format mit bestehenden Universitäten plädierte statt für die Neugründung einer einzelnen Universität.
Ähnliche Entwicklungen zeigen sich im Zusammenhang mit Covid-19. Die durch die Pandemie verstärkte Digitalisierung der Internationalisierung war bereits zuvor von den Hochschulakteuren geplant, so hatte Frankreich 2018 in seiner Internationalisierungsstrategie „Bienvenue en France“ die Verbesserung digitaler Infrastrukturen für internationale Studierende beschlossen. Und auch der DAAD hatte vor Corona bereits Förderprogramme für Virtual Exchange-Formate konzipiert, die dann im Zuge der Pandemie beschleunigt im deutschen Hochschulsystem zum Einsatz kamen.
Eine zentrale Erkenntnis für die Hochschulpraxis ist, dass Hochschulinternationalisierung nicht mehr nur an Hochschulen als Querschnittsthema aufgefasst wird, sondern für ganze Nationalstaaten. Sowohl Brexit als auch die Corona-Pandemie haben gezeigt, dass Studierendenmobilität zunehmend mit strategischer Außenpolitik, Fachkräftegewinnung, Digitalisierungs- und Einwanderungsreformen verwoben ist. Eine enge Abstimmung der verschiedenen Akteure hinsichtlich dieser Zielsetzungen bei gleichzeitiger Beibehaltung des Fokus auf die akademische Qualität und Willkommenskultur an Hochschulen wird in den kommenden Jahren eine zentrale Aufgabe sein.
Zur Person
Anna Prisca Lohse ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Hochschulbildung im Kontext von digitalem Wandel und Diversität an der Technischen Universität Berlin. Im September 2023 schloss sie erfolgreich ihre Promotion an der Hertie School – The University of Governance in Berlin ab. In ihrer Forschung befasst sie sich mit Hochschulpolitik und dabei insbesondere mit Internationalisierung, Politiktransfer und Europäisierungsprozessen. Als DAAD-Stipendiatin absolvierte sie den Masterstudiengang International Education an der New York University.
Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.