31. Mai 2024

“Keine wesentlichen Verschärfungen sozialer Ungleichheiten im Kontext der Pandemie”

Dr. Nicolai Netz leitet die Nachwuchsforschungsgruppe „Mobilität von Hochqualifizierten“ am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und erforscht seit vielen Jahren verschiedene Formen und Aspekte der internationalen akademischen Mobilität. In einer kürzlich gemeinsam mit seinem Kollegen Daniel Völk als DZHW Brief veröffentlichten Analyse befasst er sich nun mit der Frage, wie sich soziale Ungleichheiten bei der studienbezogenen Auslandsmobilität von Studierenden in Deutschland im Kontext der Corona-Pandemie entwickelt haben. Im Interview mit uns erläutert er, welche Befunde er besonders wichtig und überraschend fand, wo sich die auffälligsten Unterschiede zwischen den betrachteten Studierendengruppen zeigten und welche Schlussfolgerungen sich aus seiner Sicht hieraus für die Hochschulpraxis ergeben.

Dr. Nicolai Netz leitet die Nachwuchsforschungsgruppe „Mobilität von Hochqualifizierten“ am Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) und erforscht verschiedene Formen und Aspekte der internationalen akademischen Mobilität. (Bildquelle: Petra Nölle)

Herr Netz, Sie haben für Ihren jüngst publizierten DZHW Brief die Entwicklung der studentischen Auslandsmobilität in Deutschland zwischen 2016 und 2021 analysiert. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten und überraschendsten Befunde?

Ein zentrales Ergebnis unserer Untersuchung ist, dass sich der Trend sinkender Quoten Studierender, die zeitweilig ins Ausland gehen, auch im Jahr 2021 fortgesetzt hat. Interessanterweise ist dieser Rückgang nicht gleichmäßig bei allen Arten von Auslandserfahrungen zu beobachten. Besonders stark ist nämlich der Anteil Studierender zurückgegangen, die Praktika oder Exkursionen im Ausland absolviert haben. Hingegen ist der Anteil Studierender, die für ein oder mehrere Semester ins Ausland gehen, nur geringfügig gesunken.

Außerdem haben wir festgestellt, dass sich im Jahr 2021 soziale Ungleichheiten in Bezug auf Auslandsaufenthalte zeigen, die bereits vor der Pandemie existierten: So neigen Studierende insbesondere dann zur Auslandsmobilität, wenn sie weiblich sind, aus akademischem Elternhaus stammen, einen Migrationshintergrund haben, keine Verantwortung für Kinder tragen und nicht studienerschwerend beeinträchtigt sind. Das Ausmaß der sozialen Ungleichheiten entlang dieser Sozialgruppenmerkmale hat sich zwischen 2016 und 2021 nicht wesentlich verändert.

Überraschend ist, dass es in einigen Fällen sogar gegenläufige Entwicklungen gab. Zum Beispiel stieg der Anteil von Studierenden mit Kindern im schulpflichtigen Alter leicht an, die Pläne für Auslandsaufenthalte haben. Ebenso gab es nur einen geringen Rückgang bei den Plänen von Studierenden mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen. Das zeigt, dass es in diesen Bereichen keine wesentlichen Verschärfungen sozialer Ungleichheiten im Kontext der Pandemie gab. Dieser Befund hebt sich ab von Entwicklungen, die sich in anderen Bereichen des studentischen Lebens beobachten ließen. In Sachen Prüfungsbewältigung, Stressempfinden, Kontakt zu Mitstudierenden und Studienabbruchneigung konnte nämlich eine deutliche Verschärfung sozialer Ungleichheiten beobachtet werden. Bei der studienbezogenen Auslandsmobilität zeigte sich dies nicht in gleichem Maße.

Sie haben auch die Entwicklung der Mobilitätsmotive und Mobilitätshürden im Zeitraum zwischen 2016 und 2021 analysiert. Welche waren hier aus Ihrer Sicht die auffälligsten Veränderungen und Unterschiede zwischen den betrachteten Gruppen?

Die Motive für einen Auslandaufenthalt unterschieden sich unter den Studierenden im Jahr 2021 nur geringfügig nach Sozialgruppen. Vor allem hinsichtlich der Bildungsherkunft und des Migrationshintergrunds zeigen sich nur sehr geringe Unterschiede. Hingegen schätzen weibliche Studierende den Wert von studienbezogener Auslandsmobilität in vielerlei Hinsicht höher ein als männliche Studierende. Studierende mit Kind ziehen Auslandsaufenthalte eher in Betracht, um ihre Fachkenntnisse zu erweitern, während diejenigen ohne Kinder sie oft aus beruflichen oder Freizeitgrünen planen. Eine studienerschwerende Beeinträchtigung geht damit einher, dass Studierende die abgefragten Motive zumeist seltener als Gründe für Auslandsaufenthalte betrachten, insbesondere die Motivation, im Ausland Spaß zu haben und Kontakte zu knüpfen.

Es gibt allerdings klare Unterschiede zwischen verschiedenen Sozialgruppen bei den Gründen gegen Auslandsaufenthalte. Beispielsweise stellt eine finanzielle Mehrbelastung wesentlich häufiger ein Mobilitätshindernis für Studierende dar, die weiblich sind, aus nicht-akademischem Elternhaus stammen, einen Migrationshintergrund haben, keine Verantwortung für Kinder tragen oder studienerschwerend beeinträchtigt sind. Studierende ohne Kinder und solche mit studienerschwerenden Beeinträchtigungen empfinden die abgefragten Hindernisse im Vergleich zu ihren jeweiligen Vergleichsgruppen grundsätzlich stärker als Gründe gegen Auslandsaufenthalte.

Insgesamt gibt es also eine bunte Mischung von Beweggründen und Hindernissen, wenn es um Auslandserfahrungen geht. Es ist wichtig, diese Vielfalt zu berücksichtigen, wenn wir Maßnahmen entwickeln, um die Mobilität von verschiedenen Gruppen von Studierenden zu fördern.

Welche Schlussfolgerungen ergeben sich denn aus Ihrer Sicht aus diesen Befunden für die Hochschulpraxis?

Erst einmal brauchen wir noch genauere Analysen zu den Faktoren, welche die Entscheidungen für oder gegen Auslandsaufenthalte beeinflussen. Denn es ist wichtig zu verstehen, ob bestimmte soziale Gruppen tatsächlich benachteiligt sind – beispielsweise, weil sie weniger öffentliche Fördergelder für Auslandsaufenthalte erhalten. Wenn dies der Fall ist, sollten Umverteilungsmaßnahmen in Erwägung gezogen werden, um sicherzustellen, dass die Chancengleichheit gewahrt bleibt.

Möglicherweise sind die faktischen Benachteiligungen in Deutschland jedoch recht gering. In diesem Fall sollten weitere gezielte Informationskampagnen entwickelt werden, um den weniger mobilitätsaffinen Studierenden die verfügbaren Unterstützungsangebote und die langfristigen Vorteile von studienbezogenen Auslandserfahrungen näherzubringen. Dies könnte dazu beitragen, die Barrieren abzubauen, die bestimmte Studierendengruppen daran hindern, internationale Erfahrungen zu sammeln.

Die Ergebnisse unserer Analysen legen außerdem nahe, dass das damalige Ziel von Bundesregierung und DAAD, 50 Prozent der Studierenden zu Auslandsaufenthalten zu ermutigen, selbst vor der Corona-Pandemie schwer erreichbar war. Mittlerweile ist es noch weiter in die Ferne gerückt. Tatsächlich wissen wir insgesamt aber recht wenig über die Gründe für den seit Jahren sinkenden Anteil von Studierenden mit temporären studienbezogenen Auslandsaufenthalten. Auffällig ist, dass dieses Phänomen einer rückläufigen Credit Mobility der Studierenden nicht nur in Deutschland, sondern auch in einigen anderen europäischen Staaten seit etwa 15 bis 20 Jahren zu beobachten ist. Wir haben deshalb kürzlich gemeinsam mit dem DAAD ein Forschungsprojekt gestartet, in dessen Rahmen wir den möglichen Ursachen hierfür genauer auf den Grund gehen werden.

Im Bereich der studienbezogenen Auslandsmobilität bleibt außerdem eine Entwicklung zu beobachten, die die Corona-Pandemie stark beschleunigt hat, und zwar der verstärkte Einsatz von digitalen Lernformaten in der Hochschulbildung. Theoretisch bietet der Einsatz von digitalen Lernformaten die Möglichkeit einer weitgehenden Entkopplung der Orte, an denen sich der Lebensmittelpunkt und die Hochschule befinden. Aus technischer Sicht ist es bereits möglich und seit dem Beginn der Corona-Pandemie auch noch einfacher, auf digitalem Wege Lernerfahrungen an Hochschulen im In- und Ausland zu sammeln, die sich nicht am Ort des Lebensmittelpunktes befinden. In der Fläche ausgebaut und in deutsche Curricula integriert sind digitale Austauschformate aber noch nicht.

Aus Sicht von Forschung und Praxis stellen sich mit Blick auf digitale Lernformate auch viele relevante Anschlussfragen: Welche spezifischen Hindernisse nehmen Studierende beim Zugang zu solchen Formaten wahr? Welche Merkmale beeinflussen eine Teilnahme daran? Zeigen sich im Bereich digitaler Austauschformate beispielsweise ähnliche soziale Ungleichheiten wie im Bereich der physischen Studierendenmobilität? Oder können digitale Formate existierende Ungleichheiten vielmehr abmildern? Und welchen spezifischen Wert haben digitale Austauschformate im Vergleich zu physischen Auslandsaufenthalten, etwa mit Blick auf die Persönlichkeits-, Kompetenz- und Karriereentwicklung? Wie realistisch ist eigentlich die Hoffnung, dass digitale Austauschformate physische studienbezogene Auslandsaufenthalte – zumindest teilweise – ersetzen können? Wie Sie sehen, gibt es also auch in Zukunft noch weitreichenden Forschungsbedarf, wenn es um die Internationalisierung des Hochschulstudiums geht.

Quelle: Eric Lichtenscheid

Autor: Dr. Jan Kercher, DAAD

Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.

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