13. Juni 2024

“Die Corona-Krise baute Reformbarrieren ab, indem sie gesellschaftliche Normen veränderte”

Anna Prisca Lohse ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Hochschulbildung im Kontext von digitalem Wandel und Diversität an der Technischen Universität Berlin. In der neuen Ausgabe von “DAAD Forschung kompakt” fasst sie zentrale Befunde ihrer kürzlich veröffentlichten Dissertation zum Thema “Higher Education in an Age of Disruption: Comparing European Internationalisation Policies” zusammen. Im Interview mit unserem Blog erläutert sie, warum Brexit und Corona-Pandemie nicht zu radikalen Brüchen in der Hochschulinternationalisierung führten, unter welchen Bedingungen größere und nachhaltigere Veränderungen möglich gewesen wären und wie sich die Reaktionen auf Brexit und Corona-Krise in Deutschland von denen in England und Frankreich unterschieden.

Anna Prisca Lohse ist Postdoktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Hochschulbildung im Kontext von digitalem Wandel und Diversität an der Technischen Universität Berlin. (Bildquelle: Michel Buchmann)

Frau Lohse, Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit den Auswirkungen zweier einschneidender Ereignisse, Brexit und Corona-Pandemie, auf die Hochschulinternationalisierung in Deutschland, England und Frankreich beschäftigt. Anders als man erwarten könnte, haben diese beiden Ereignisse aber nicht zu größeren Veränderungen in den betrachteten Ländern geführt. Wie lässt sich das erklären?

Tatsächlich stellte ich über alle drei Länderkontexte hinweg fest, dass der Brexit und die Corona-Pandemie zwar bereits geplante Veränderungen beschleunigten, nicht aber zu radikalen Brüchen mit existierenden Internationalisierungsstrategien führten. So hatten Deutschland und Frankreich, angeleitet durch den DAAD und Campus France, bereits vor der Pandemie einen verstärkten Fokus auf die Digitalisierung der Hochschulinternationalisierung beschlossen. In Deutschland ging es hier um die Digitalisierung der Lehre und der administrativen Infrastrukturen beispielsweise durch das Projekt Internationale Mobilität und Kooperation, kurz: IMKD, das bereits vor der Pandemie ausgeschrieben worden war. Während die zunehmende Bedeutung der Digitalisierung also bereits anerkannt war, verlangsamten insbesondere rechtliche Hürden schnelle Reformen. Gleichzeitig blieb physische Mobilität der „Goldstandard“ und es existierten oftmals Vorbehalte gegenüber virtuellen Austauschformaten. Ab März 2020 gab es dann keine andere Wahl mehr, als in die digitale Sphäre auszuweichen, und der DAAD schrieb kurzfristig weitere Förderprogramme aus, die die digitale Internationalisierung auf Kurs- und Studiengangsebene unterstützten, IVAC und IP Digital.

In Frankreich hatte man bereits 2018 im Rahmen der ersten nationalen Internationalisierungsstrategie „Bienvenue en France“ beschlossen, dass vermehrt digitale Recruitment- und Support-Strukturen für internationale Studierende etabliert werden müssen. Über das „Bienvenue en France“-Label schaffte man Anreize für die Umsetzung seitens der Hochschulen. Darüber hinaus hatte man beschlossen, die Visums-Beantragung für internationale Studierende zu digitalisieren, allerdings stockte diese Reform angesichts komplexer Absprachen zwischen Ministerien, Kommunen und Universitäten. Im Rahmen der Pandemie nahm dieses Reformvorhaben dann Fahrt auf, denn Frankreich hielt an seiner „Bienvenue en France“-Strategie fest und wollte weiterhin vermehrt internationale Studierende anwerben.  

Wir sehen also, dass die Corona-Krise Reformbarrieren abbaute, indem sie gesellschaftliche Normen veränderte und die Priorisierung der Digitalisierung auf der Politik-Agenda einläutete. Was hingegen nicht stattfand, waren radikale Veränderungen der Internationalisierungsstrategien. So wäre es beispielsweise denkbar gewesen, dass Deutschland und Frankreich im Zuge der Pandemie mobilitätsunabhängige transnationale Online-Studiengänge einführen, wie diese in England gang und gäbe sind. Diese entsprechen allerdings nicht dem traditionellen deutschen und französischen Verständnis von Internationalisierung, das auf Kooperation mit Hochschulen vor Ort setzt und keine gewinnmaximierenden Studienangebote vorsieht. Diese fundamentalen Unterschiede haben sich historisch entwickelt und bewirken Pfadabhängigkeiten, die auch in Krisenzeiten bestehen bleiben.

Hätte es aus Ihrer Sicht Konstellationen geben können, unter denen größere und nachhaltigere Veränderungen in einem oder mehreren der untersuchten Länder wahrscheinlich gewesen wären?

Das Veränderungspotenzial wird umso größer, je länger der bisher existierende Status Quo nicht mehr reproduziert werden kann. Im Fall der Coronakrise wurde die individuelle Mobilität zunächst stark eingeschränkt, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Rückblickend ging es dann aber dank der Entwicklung der Corona-Vakzine in allen drei Ländern doch relativ schnell wieder weiter mit dem Uni-Betrieb vor Ort und die internationale Studierendenmobilität nahm erneut Fahrt auf. Bei einem noch längeren Andauern der Krise wäre es durchaus vorstellbar gewesen, dass es zu einem noch systematischeren Ausbau von digitalen Internationalisierungs-Angeboten gekommen wäre, dass also auch Deutschland und Frankreich hybride oder komplett digitale Studiengänge eingerichtet hätten, insbesondere im Kontext von double und joint degrees.

Darüber hinaus waren finanzielle Rahmenbedingungen während der Pandemie entscheidend für das Ausmaß an vollzogenem Wandel. Da internationale Studierende eine zentrale Einnahmequelle für englische Universitäten darstellen, repräsentierte der zu Beginn der Pandemie annehmbare jahrelange Rückgang von internationalen Studierendenzahlen eine existenzielle Bedrohung für die finanzielle Stabilität des Hochschulsektors. Viele Hochschulakteure forderten eine Finanzierungsreform des Hochschulsektors ein. Da die internationalen Studierendenzahlen allerdings entgegen anfänglicher Befürchtungen während der Pandemie in England nicht einbrachen, sondern sogar weiterhin anstiegen, musste die britische Regierung nicht auf diese Reformforderungen eingehen. Hätten die Corona-bedingten Einschränkungen in England länger angehalten und hätte sich die finanzielle Lage im Hochschulsektor tatsächlich zugespitzt, wären Veränderungen sowohl bei der Finanzierung des Hochschulsektors als auch in den universitären Strategien notwendig geworden. 

Schauen wir zum Schluss noch einmal auf die drei Länder im Einzelnen: Welche zentralen Unterschiede haben Sie bei den nationalen Reaktionen auf Brexit und Corona-Pandemie feststellen können? Oder noch konkreter: Wie unterscheiden sich die von Ihnen beobachteten Reaktionen in Deutschland von denen in England und Frankreich – und warum?

Sowohl beim Brexit als auch bei der Corona-Pandemie ähnelten sich die Herausforderungen und entwickelten Politikmaßnahmen in Deutschland und Frankreich, während es auf Seiten Englands ganz anders aussah. Beim Brexit ist das natürlich naheliegend, ging der Brexit doch vom Vereinigten Königreich aus, während Deutschland und Frankreich als traditionelle „Motoren der Europäischen Union“ auf der anderen Seite des Verhandlungstisches saßen und europäische Geschlossenheit demonstrieren wollten. So reagierten Deutschland und Frankreich auf den Brexit, indem sie beide eine „Jetzt erst recht“-Haltung bezüglich der Kollaboration innerhalb des europäischen Hochschulraums an den Tag legten. Sowohl Deutschland als auch Frankreich beteiligten sich rege an den als Reaktion auf den Brexit gegründeten europäischen Hochschulallianzen. Gleichzeitig intensivierten beide Länder Uni-Partnerschaften mit skandinavischen und osteuropäischen Hochschulen, die englischsprachige Studienprogramme anbieten, um so den Ausstieg des Vereinigten Königreichs aus dem Erasmus-Programm zu kompensieren.

Im Kontext der Corona-Pandemie stand das marktbasierte britische Hochschulsystem vor ganz anderen Herausforderungen als das deutsche und französische. In England war die Hochschul-Digitalisierung durch starken Kommerzialisierungsdruck bereits weit vorangeschritten, sodass der pandemiebedingte „move online“ nicht so herausfordernd war wie in Deutschland und Frankreich, wo digitale Lehre zuvor eher eine Ausnahme darstellte. In England brachte der anzunehmende längerfristige Rückgang internationaler Studierender das Hochschulsystem allerdings an den Rand des finanziellen Kollapses. Dies war in Deutschland und Frankreich nicht der Fall, da die Hochschulsysteme weitestgehend staatlich finanziert sind. Eine spannende Erkenntnis für Deutschland ist, dass während der Corona-Krise ein starker Fokus auf die pädagogische Komponente der Digitalisierung gelegt wurde. Während es in Frankreich hauptsächlich darum ging, digitales Recruitment und Infrastrukturen für internationale Studierende zu verbessern, und man in England primär „digital routes to market“ in Form von Online-Marketing entwickelte, gab es in Deutschland gefördert durch verschiedene DAAD-Programme systematische Maßnahmen, um die digitale Internationalisierung über Virtual Exchange oder COIL, d.h. Collaborative Online International Learning, unter Einbezug des universitären Lehrpersonals voranzutreiben.

Quelle: Eric Lichtenscheid

Autor: Dr. Jan Kercher, DAAD

Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.

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