„Hochschulen können bei der Fachkräftesicherung helfen“
Prof. Dr. Axel Plünnecke leitet beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln das Cluster Bildung, Innovation, Migration und befasst sich in seiner Forschung u.a. mit den Themen MINT-Zuwanderung und Zuwanderung über die Hochschulen. Im Interview erläutert er, warum die MINT-Zuwanderung eine so zentrale Rolle in seiner aktuellen Forschung spielt, welcher Bedeutung hierbei den deutschen Hochschulen zukommt und wie Deutschland im Wettbewerb mit anderen Industrienationen um internationale Studierende bestehen kann.
Herr Professor Plünnecke, Sie befassen sich in Ihrer aktuellen Forschung insbesondere mit der Zuwanderung nach Deutschland im MINT-Bereich. War der Anlass hierfür ein besonders hoher Fachkräftemangel in diesem Bereich?
Aktuell fehlen in Deutschland rund 280.000 MINT-Kräfte, darunter 123.000 Personen in akademischen MINT-Berufen, also vor allem in Ingenieur- und Informatikberufen. In den kommenden Jahren nimmt durch Digitalisierung, Klimaschutz und den demografischen Wandel der Bedarf der Wirtschaft an MINT-Qualifikationen zu. Um den Wohlstand zu sichern, benötigen wir mehr Innovationen in Wirtschaft und Gesellschaft. Mehr als drei Viertel aller Erwerbstätigen in den Bereichen Forschung und Entwicklung haben eine MINT-Qualifikation. Sorge macht dabei, dass die Erstsemesterzahlen in den MINT-Fächern in den vergangenen sechs Jahren gesunken sind und dass – wie die PISA-Studie zeigt – 15 Jahre alte Schülerinnen und Schüler große Lücken in mathematischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzen aufweisen. Hohe und steigende MINT-Engpässe belasten die Innovationskraft und gefährden die nachhaltige Sicherung des Wohlstands in Deutschland.
In einem kürzlich veröffentlichten Gutachten für den arbeitgebernahen Thinktank „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) befassen Sie sich mit den Herausforderungen, vor denen die deutsche Bildungspolitik angesichts gesellschaftlicher Transformationsprozesse steht. Welche Rolle können Hochschulen bei der Gewinnung von MINT-Fachkräften spielen?
Hochschulen haben eine besonders wichtige Rolle für das Gelingen gesellschaftlicher Transformationsprozesse. So bilden vor allem Technische Universitäten (TU) und Hochschulen für angewandte Wissenschaften (HAW) viele MINT-Absolventinnen und -Absolventen aus. Hochschulen entwickeln Weiterbildungsangebote – beispielsweise in KI, Big Data und neuen Klimaschutztechnologien. Weitere Impulse sind Gründungen in den Bereichen Digitalisierung und Klimaschutz oder gemeinsame Forschungsaktivitäten mit der Wirtschaft. Und die Zuwanderung über die Hochschulen hilft dabei, gerade Menschen auch aus demografiestarken Drittstaaten für die MINT-Beschäftigung in Deutschland zu gewinnen. Dies wird an den Beschäftigungszahlen in den Landkreisen und Städten mit einem Standort einer Technischen Hochschule im Vergleich zu ganz Deutschland besonders deutlich: 22 Prozent aller in Deutschland Beschäftigten waren im Jahr 2022 in diesen Regionen tätig – aber insgesamt 31 Prozent aller Beschäftigen im Bereich Ingenieurswesen und sogar 44 Prozent aller internationalen Ingenieurbeschäftigten. Und gerade die Beschäftigung und der Anteil der internationalen Ingenieurinnen und Ingenieure nimmt in den TU-Regionen besonders stark zu.
Deutschland ist nicht das einzige westliche Industrieland, das derzeit mit einem Fachkräftemangel konfrontiert ist. Wie schätzen Sie vor diesem Hintergrund die Chancen ein, dass Deutschland gerade auch im MINT-Bereich eine steigende Zahl von internationalen Studierenden als zukünftige Fachkräfte anziehen und erfolgreich im deutschen Arbeitsmarkt integrieren kann? Und was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Stellschrauben, um die Attraktivität Deutschlands für internationale Studierende zu erhöhen?
Deutschland hat in den vergangenen zehn Jahren die Anzahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in akademischen MINT-Berufen unter Deutschen um 38 Prozent, unter Ausländerinnen und Ausländern insgesamt um 190 Prozent und unter Drittstaatsangehörigen um über 300 Prozent erhöhen können. Insbesondere die Beschäftigung von Inderinnen und Indern ist in den vergangenen zehn Jahren sehr dynamisch gewachsen und viele Beschäftigte haben zuvor in Deutschland studiert. Das Potenzial wächst weiter: Die Gesamtzahl der Studierenden aus Indien an deutschen Hochschulen ist von gut 4.800 im Jahr 2010 auf rund 42.600 im Jahr 2022 gestiegen. Die Regelungen des Einwanderungsgesetzes für internationale Studierende, nach dem Studium in Deutschland zu leben und zu arbeiten, sind sehr gut. Wichtig für eine gute Integration in Deutschland sind eine gute Begleitung der Studierenden hier vor Ort an den Hochschulen und ein gutes Angebot an Sprachkursen. Hier sollte die Politik zusätzliche Ressourcen bereitstellen.
In einem zweiten Schritt kann die Zuwanderung über die Hochschulen auch bei der Fachkräftesicherung in MINT-Facharbeiterberufen helfen, da Zuwanderungsprozesse häufig durch bestehende persönliche Netzwerke unterstützt werden. 120.000 Menschen aus zumeist demografiestarken Drittstaaten arbeiten aktuell in Deutschland in akademischen MINT-Berufen – auch durch die Zuwanderung über die Hochschulen wird diese Zahl in den kommenden Jahren weiter steigen. Diese Personen wiederum haben viele Kontakte in ihre Herkunftsländer zu Freunden und Bekannten, die ihrerseits künftig beispielsweise über die Chancenkarte nach Deutschland zuwandern und vor Ort nach einer Beschäftigung auch in anderen akademischen oder in nicht akademischen Berufen suchen können. Zuwanderung über die Hochschulen hilft also über diese Netzwerkeffekte langfristig sogar noch einmal deutlich stärker und breiter bei der Fachkräftesicherung in Deutschland.
Prof. Dr. Axel Plünnecke hat Volkswirtschaftslehre in Göttingen studiert und an der Technischen Universität in Braunschweig promoviert. Seit 2003 ist er am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW Köln) tätig und leitet dort das Themencluster Bildung, Innovation und Migration. Forschungsschwerpunkte liegen dabei in der Bildungsökonomik und in ökonomischen Fragestellungen zum Umgang von Unternehmen und Gesellschaft mit dem demografischen Wandel. Darüber hinaus ist Prof. Dr. Plünnecke stellvertretender Fachbereichsleiter Ökonomie an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement (DHfPG).
Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.