“Die internationale akademische Mobilität entwickelt sich trotz weltweiter Krisen weiter positiv”
Letzte Woche wurde die neue Ausgabe von Wissenschaft weltoffen veröffentlicht. Dr. Ulrich Heublein vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) hat zwei Jahrzehnte lang die von DAAD und DZHW gemeinsam herausgegebene Publikation leitend betreut und maßgeblich weiterentwickelt. Die nun veröffentlichte 24. Hauptausgabe war für ihn die letzte vor seinem wohlverdienten Ruhestand. Im Interview spricht er über deren zentrale Befunde und erläutert die Inhalte und die Funktion des neuen Kapitels zu strukturellen Aspekten der Internationalisierung. Zudem wirft er einen Blick zurück auf die letzten 20 Jahre der Hochschulinternationalisierung und wagt einen Blick voraus, auf die nächsten 20 Jahre.
Herr Heublein, was sind aus Ihrer Sicht die drei wichtigsten Befunde der neuen Ausgabe von Wissenschaft weltoffen? Und welcher Befund hat Sie am meisten überrascht?
Das ist keine einfache Frage. In der neuen Ausgabe von Wissenschaft weltoffen sind weitaus mehr als drei wirklich bedeutsame Befunde versammelt. Ganz obenan steht für mich die Nachricht, dass sich die internationale akademische Mobilität trotz weltweiter Krisen weiter positiv entwickelt. Es gibt keinen Abbruch im länderübergreifenden Austausch. Das ist deshalb so wichtig, weil internationale Mobilität nicht nur zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen und zur Ausbildung junger, innovativer Akademikerinnen und Akademiker, die grenzüberschreitend tätig werden, führt, sondern eben auch zu gegenseitigem Kennenlernen, zum Aufbau von Verständnis und Vertrauen. Das ist nicht hoch genug zu schätzen für die Bewältigung der heutigen Krisen.
In dem Zusammenhang hat dann auch der folgende Befund große Bedeutung: Internationale Studierende an deutschen Hochschulen fühlen sich sicher, sie sind mit ihrem Studium zufrieden und empfehlen ihren Freunden und Bekannten ein Studium in Deutschland. Auf jeweils um die 80 Prozent der internationalen Studierenden trifft dies zu. Die Zahlen belegen, dass die Erwartungen, die mit dem internationalen Austausch verbunden sind, auch eingelöst werden.
Möglich ist dies unter anderem, weil sich viel tut bei der angemessenen Studienvorbereitung internationaler Studierender. Darauf verweist ein weiterer Befund – die Bedeutung der Arbeit von Studienkollegs und anderen studienvorbereitenden Einrichtungen. Zehn Prozent der internationalen Studienanfängerinnen und Studienanfänger im Bachelorstudium haben ein Studienkolleg besucht. In Ingenieurwissenschaften sind es sogar 14 Prozent. Für eine weitere Verbesserung des Studienerfolgs ist dies zweifelsohne wichtig.
Am meisten überrascht hat mich aber ein anderes Ergebnis: Internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beurteilen das deutsche Wissenschaftssystem deutlich positiver als ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen. Dies trifft vor allem auf solche Aspekte wie Wissenschaftsfreiheit und Autonomie, Innovationsfähigkeit, Verhältnis von Forschung und Lehre, gesellschaftliche Wertschätzung sowie Leistungsgerechtigkeit zu. Mit dem Hintergrund anderer Hochschul- und Wissenschaftssysteme schneidet Deutschland offensichtlich besser ab als aus der Binnenperspektive.
Die neue Ausgabe enthält nicht nur sechs Schlaglicht-Kapitel, sondern auch ein neues reguläres Kapitel zu strukturellen Aspekten der Internationalisierung von Forschung und Lehre in Deutschland. Können Sie unseren Leserinnen und Lesern erläutern, was für neue Daten und Analysen sich konkret hinter dieser etwas spröde klingenden Kapitelüberschrift genau verbergen?
Der Titel mag spröde klingen, aber dieses neue Kapitel stellt eine sehr wichtige Ergänzung der bisherigen Berichterstattung dar. Die internationale Mobilität sowohl der Studierenden als auch der Forschenden wird sich nur auf Basis förderlicher Bedingungen und Strukturen weiter positiv entwickeln. Diese Voraussetzungen sind Inhalt des neuen Kapitels. Dabei stellen die entsprechenden Analysen in Wissenschaft weltoffen 2024 einen Anfang dar, der in Zukunft weiter ausgebaut wird. Zunächst konnten wir nur auf ausgewählte strukturelle Aspekte eingehen, für weitere sind die Datenlage und -belastbarkeit noch zu klären. Allerdings zeigen schon die jetzt behandelten Daten, welches Unterstützungspotenzial für die Internationalisierung in Deutschland entstanden ist. So analysieren wir in einem Schlaglicht, wie wichtig englischsprachige Studiengänge für internationale Studierende sind. Mitte 2024 wurden rund 2.200 Studiengänge mit Englisch als Hauptunterrichtssprache von deutschen Hochschulen angeboten, mehr als doppelt so viele wie 2016. Gut die Hälfte der internationalen Studierenden in Deutschland ist in einem solchen Studiengang eingeschrieben.
Ein weiteres unverzichtbares Strukturelement der Hochschulinternationalisierung sind vor allem die International Offices. So gut wie jede Hochschule verfügt über solch eine Organisationseinheit. Wir ermittelten für das neue Kapitel von Wissenschaft weltoffen, dass deutschlandweit rund 2.800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den International Offices arbeiten. Zu ihren vielfältigen Aufgaben zählen unter anderem die internationalen Hochschulkooperationen, die häufig den akademischen und studienbezogenen Austausch erst ermöglichen. 35.800 solcher internationalen Kooperationen werden inzwischen von den deutschen Hochschulen unterhalten. Dabei spielen westeuropäische, aber auch zunehmend asiatische Hochschulen eine besondere Rolle. Und schließlich darf das Thema Finanzen nicht vergessen werden. Wir haben uns zunächst die Forschungsmittel angeschaut, die von den deutschen Hochschulen bei der EU und anderen internationalen Organisationen eingeworben wurden. Das waren 2021 rund 850 Millionen Euro, eine beträchtliche Summe, deren Erhalt auf Fragestellungen von internationaler Relevanz und kooperativen Projektdesigns basiert, die eine Zusammenarbeit mit Partnern aus anderen Ländern einschließen.
Sie haben Wissenschaft weltoffen nun ziemlich genau 20 Jahre lang als Projektleiter am DZHW begleitet. Wenn Sie noch einmal zurückblicken auf diese Zeit: Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Entwicklungen im Bereich der internationalen akademischen Mobilität und Hochschulinternationalisierung? Und welche Entwicklungen werden Ihrer Einschätzung nach die kommenden 20 Jahre prägen?
Vergleicht man den Stand der Internationalisierung heute mit dem vor zwanzig Jahren, sind es vor allem zwei Entwicklungen, die auffallen: Internationale Mobilität ist selbstverständlich geworden. Das meint nicht, dass heute alle Studierenden oder Forschenden studien- oder forschungsbezogene Auslandsaufenthalte unternehmen, vielmehr sagt dieser Satz, dass sich mittlerweile allen Studierenden, allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Frage nach einem Auslandsaufenthalt stellt. Niemand hält diese Frage mehr für überflüssig. Internationalisierung als gelebter Alltag zeigt sich aber ebenso in Bezug auf die Anwesenheit internationaler Studierender und Forschender. Selbst die kleinste Hochschule für Angewandte Wissenschaften strebt heute nach Studierenden und Lehrenden aus dem Ausland. Das war vor zwanzig Jahren noch anders, da war die Internationalisierung noch nicht in diesem Maße in allen Hochschulbereichen angelangt.
Zum anderen aber ist internationale Mobilität im Hochschulbereich auch vielfältiger geworden. Der Austausch beschränkt sich nicht mehr nur auf unmittelbare Begegnungen, meist in Form mehrmonatiger Studienaufenthalte oder kürzerer Konferenzteilnahmen der Forschenden. Inzwischen haben sich sowohl die Zeiträume als auch die Mobilitätsformen flexibilisiert. Studium und Forschung in internationalisierter Form finden jetzt auch in virtuellen Räumen statt, eine Entwicklung, die zur Verstetigung von Kontakten und Kooperationen beiträgt. Darüber hinaus gehören aber auch z. B. die längst schon etablierten transnationalen Bildungsangebote zu einer diversifizierten Mobilität.
Wie wird es in den nächsten 20 Jahren weiter gehen? Ich bin überzeugt, dass die virtuellen Wege für den internationalen Austausch weiter an Bedeutung gewinnen. Dies wird nicht die unmittelbaren Begegnungen ersetzen, sondern sie vielmehr ergänzen und länderübergreifendes Studieren und Forschen noch selbstverständlicher in den Alltag der Hochschulen integrieren. Seinen Ausdruck wird dies u. a. in der Vermehrung international kooperativer Studienformate finden. Des Weiteren ermöglicht die Flexibilisierung von Mobilitätsformen und -wegen neuen Akteursgruppen eine stärkere Teilnahme am internationalen Austausch. Hier sehe ich vor allem das Verwaltungs- und wissenschaftsunterstützende Personal der Hochschulen, das sich nicht nur selbst stärker internationalisiert, sondern häufiger auch internationale Erfahrungen sammelt. Das ist ein notwendiger Schritt für die weitere Internationalisierung der Hochschulen.
Unabhängig davon, bin ich mir sicher, dass bestimmte Gastregionen, deren Stellenrang in der weltweiten akademischen Mobilität noch nicht der Zahl ihrer Studierenden- und Forschenden entspricht, deutlich an Bedeutung gewinnen werden. Vor allem auf die afrikanischen, aber auch auf die lateinamerikanischen Gastregionen wird dies zutreffen. Vor allem deshalb, weil in diesen Regionen wissenschaftliche Fragen und Lösungen bearbeitet werden, die für uns alle von höchster Bedeutung sind.
Zur Person
Ulrich Heublein von 1991 bis 2024 am DZHW tätig und Projektleiter in der Abteilung “Bildungsverläufe und Beschäftigung”. Seine Forschungsinteressen gelten den Bedingungen erfolgreichen Studierens, den Ursachen des Studienabbruchs sowie der Internationalisierung von Studium und Forschung. Er hat Germanistik und Publizistik an der Universität Leipzig studiert und 1986 in Germanistik promoviert.
Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.